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Spinderella Spinnbein

 

In einem alten Haus, fernab der großen Stadt, wohnte Spinderella Spinnbein. Genauer gesagt, in der oberen linken Ecke des Wohnzimmerfensters. Von dort aus blickte sie auf Kornfelder, Obstbäume und saftige grüne Wiesen, auf denen Kühe grasen.

Das Haus gehörte natürlich nicht ihr. Es gehörte Lucie und Otto, einem alten Ehepaar. Spinderella war sozusagen Untermieter. Manchmal standen die beiden alten Leute vor ihrem Netz und sagten nette Dinge wie: „Sieh mal dieses kunstvoll gesponnene Netz“ oder „Wie schön uns diese kleine Spinne Mücken und Fliegen wegfängt.“ – Spinderellas Netz war wirklich wunderschön. Sie war sehr stolz darauf. Nicht selten verfing sich darin ein fetter Brummer oder eine schmackhafte Mücke. Spinderella kannte keine Not, sie war eine rundum zufriedene Spinne.

Das allerdings sollte sich ändern. Eines Tages hielt vor dem Haus ein glänzendes Ding. Lucie und Otto bekamen Besuch von ihrem Neffen Paul aus der Stadt. Spinderella staunte nicht schlecht. Noch nie hatte sie so ein glänzendes Ding gesehen. An den schwarzen Rädern erkannte sie, dass es so etwas ähnliches wie Ottos altes Auto sein musste. Aber was für ein Unterschied! Die drei Menschen draußen sprachen miteinander. Weil aber die Scheibe dazwischen war, konnte Spinderella leider nichts verstehen.
„Ihgitt Mama, die haben Spinnen“, sagte das Kind nämlich gerade und zeigte zur Fensterecke.
„Scht! So etwas sagt man nicht!“, flüsterte die Frau hastig. „Auf dem Lande gibt es jede Menge Arbeit. Tante Lucie wird nicht viel Zeit zum Wischen haben. Da stellt sich schnell Ungeziefer ein.“

 Lucie und Otto freuten sich über den Besuch. Lucie hatte Pflaumenkuchen gebacken, und nun saßen alle am runden Tisch. Spinderella hockte mit großen Augen in ihrem Netz und lauschte gespannt. Die drei erzählten von hohen Häusern, riesigen Supermärkten, hell erleuchteten Straßen und vielen seltsamen Dingen wie Video, Internet oder Mikrowelle, von denen Spinderella noch nie etwas gehört hatte. Nach und nach überkam sie das Gefühl, eine sehr rückständige Landspinne zu sein.

Am Abend ging der Besuch. In den folgenden Tagen wurde Spinderella immer unzufriedener. Nicht einmal die fettesten Brummer wollten ihr mehr so recht schmecken. Sie vernachlässigte ihr Netz und wünschte sich nichts sehnlicher, als in die große Stadt umzuziehen, um all die fremden Dinge kennen zu lernen, von denen die drei geschwärmt hatten. Aber die Stadt war weit, viel zu weit für eine kleine Spinne.
Eines Tages jedoch erkannte sie, dass dieser Tag ihr Glückstag sein musste. Otto und Lucie beschlossen nämlich, ihre Verwandten in der Stadt zu besuchen. Spinderella war sofort hellwach. Ihr Entschluss stand fest: noch heute würde sie umziehen. Aufgeregt begann sie nach einem Reiseversteck zu suchen. Sie entschied sich für Lucies Handtasche, denn ohne die würde Lucie ganz sicher nicht fortgehen. Schnell kroch sie hinein.

Spinderella brauchte nicht lange auf die Abreise zu waren. Es ruckelte und zuckelte fürchterlich, als Lucie die Tasche ergriff. Sie hockte reichlich unbequem zwischen Kamm, Schlüssel, Portemonnaie und viel Krimskrams, und alles kullerte durcheinander. Was Lucie so alles mit sich herumschleppte! Es drückte und piekte  bei jeder Bewegung. Doch Spinderella ertrug alles, denn sie wollte ja ihr Ziel unbedingt erreichen.

Dabei hätte ein Blick aus ihrem Versteck sie schon stutzig machen können. Bäume und Blumen wurden seltener, das saftige Grün der Wiesen blasser und die Lüft trüber, je weiter sich Ottos Auto der großen Stadt näherte. Tief in der Tasche aber bemerkte Spinderella nichts von alledem. Sie hoffte, dass das Geschaukel endlich vorüber sein möge. Dann auf einmal war es überstanden, Lucie hatte die Tasche abgelegt. - Vorsichtig riskierte sie einen Blick hinaus. Die Tasche lag auf einem kleinen durchsichtigen Tisch. Und der stand auf einer grünen Wiese. Voller Erwartung verließ sie ihr Versteck. Hier sah es anders aus als zu Hause. Seltsame Möbel standen auf der Wiese herum. Und die Fenster erst! Eines allein so groß wie Lucies Fenster alle zusammen!

Spinderella hätte noch stundenlang alles bestaunen können, aber reisen macht hungrig, vor allem, wenn man vor Aufregung vor der Abreise nichts gefressen hat. Also machte sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Platz für ihr Netz. Sie gleitete an ihrem Spinnfaden hinab auf die Wiese, doch kaum hatte sie ihre acht Beine auf den Boden gesetzt, hangelte sie vor Schreck wieder den halben Faden hinauf. Was für eine Wiese! Spinderella suchte nach Gräsern und Gänseblümchen, aber die gab es hier nicht. Misstrauisch betastete sie den Boden. Nein, das war keine Wiese. Eher fühlte es sich an wie Lucies rosa Bettvorleger. Ein grüner Riesenbettvorleger, der von einer Wand zur anderen reichte und durch alle Zimmer ging. Eine richtige Wiese wäre ihr lieber gewesen.

Aber nun der Bauplatz für ihr Netz. Sie nahm sich vor, das schönste Netz zu spinnen, das Menschen jemals zu sehen bekommen haben. Aus alter Gewohnheit wählte sie die Fensterecke. Uii. War das hoch hier! Von so weit oben hatte sie noch nie hinabgesehen. Dicht gegenüber stand ein anderes großes Haus und daneben noch mehr. Weit und breit keine Bäume und keine Tiere. Doch, dort am Fenster gegenüber entdeckte sie einen kleinen Vogel. Aber warum saß der in einem Kasten aus Draht?  
Der Ausblick war nicht sonderlich schön, aber von hier aus konnte sie wenigstens alles überblicken. Eifrig begann sie, ihr Netz zu spinnen. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie Lucie erst bemerkte, als diese direkt vor ihrem Netz stand. „Schau Otto, hier haben sie genau so eine hübsche Spinne wie wir zu Hause“. Ehe Otto aber antworten konnte, ertönte eine spitze Stimme:

„Eine Spinne, wo? Warte, ich komme“, und eine Kinderstimme kreischte dazu: „Ihh Papa, mach sie tot!“
Mit einem Besen bewaffnet erschien Paul am Fenster und zerstörte das halbfertige Netz. In panischer Angst ließ sich Spinderella am Faden fallen und schlüpfte hinter die langen weißen Stäbe unter dem Fenster. Puh, war das heiß hier!
„Unter der Heizung sitzt sie“, kreischte die Kinderstimme wieder. Spinderellas kleines Herz klopfte laut. Große braune Pantoffeln traten unter die Heizung. Sie beruhigte sich erst, als sie die Stimme sagen hörte: „Da komme ich nicht an. Vielleicht habe ich sie auch schon erwischt.“
Eine ganze Weile blieb sie verängstigt dort hocken, dann aber meldete sich der Hunger wieder. Vorsichtig machte sie sich erneut auf die Bauplatzsuche. Das Fenster kam nicht mehr in Frage, viel zu gefährlich. Ecke für Ecke durchstöberte sie vorsichtig die Wohnung. Überall roch es unangenehm nach Scheuerpulver und Insektenspray.  Und jetzt erst vermisste Spinderella etwas Wichtiges: Wo war der Duft, der Duft von Blumen und dem Vieh, der die vielen Insekten anlockte, die sie fangen musste, um nicht zu verhungern?
In der Besenkammer, da hätte sie notfalls wohnen können. Aber dort hauste bereits eine ziemlich magere Spinne.
„Verschwinde“, giftete sie Spinderella an. „Die Fliegen reichen ja kaum für mich allein“.

Spinderellas Magen knurrte bereits beträchtlich, als sie endlich Fliegen entdeckte. Sie hatten sich auf einem Papierstreifen versammelt, der sich von der Decke der Besenkammer hinabkringelte. Und sie flogen nicht einmal davon, als Spinderella sich behutsam an ihrem Faden herabseilte.

„Lass die Finger von den Fliegen da oben“, warnte die magere Spinne aus ihrer Ecke. Aber Spinderella hörte nicht auf sie.
<Die ist nur neidisch, weil ich sie zuerst entdeckt habe>, sagte sie sich und packte blitzartig zu. Aber was war das? Die konnten ja gar nicht davon fliegen, weil sie hier fest klebten, und nun klebte auch Spinderella linkes Vorderbein. „Ich habe dich gewarnt“, ereiferte sich die magere Spinne. Spinderella geriet in Panik. Wie gut, dass sie zu Hause so viele gute Brummer verspeist hatte. Mit viel Kraft gelang es ihr, sich wieder zu befreien, und sie schwor sich bei allen acht Spinnbeinen, die Besenkammer nie wieder zu betreten.

Der Traum von der Stadt war ausgeträumt. Spinderella erinnerte sich voller Sehnsucht an ihr gemütliches Netz am Fenster. Wie schön war es doch zu Hause. Und dann vernahm sie auf einmal die vertrauten Stimmen von Lucie und Otto im Flur.
"Auf Wiedersehen“, sagte Lucie gerade. „Es war schön bei euch.“
Spinderella sah das ganz anders. Zurück! Das war ihr einziger Gedanke. Sie begann zu rennen, so schnell ihre langen Beine sie nur tragen konnten. Ihr Reiseversteck konnte sie nicht mehr erreichen. Lucies Handtasche schaukelte bereits hoch über ihr in Lucies Hand.

Spinderella nahm keine Rücksicht darauf, dass Paul sie vielleicht bemerken könnte. Mit letzter Kraft erwischte sie Ottos Bein, als er gerade aus der Tür ging. Sie kroch in den Hosenaufschlag und kuschelte sich erschöpft zwischen ein paar Erdkrümel und vertrocknete Grashalme und schnupperte wohlig den vertrauten Duft, der sie hier umgab. Und Otto trug, ohne es zu bemerken, Spinderella in seinem Hosenaufschlag sicher wieder nach Hause.

Endlich wieder daheim! Müde und erschöpft krabbelte sie in den Blumenstrauß am Fenster. Bevor ihr die Augen zufielen, blinzelte sie noch einmal zufrieden umher. Oben in ihrem alten Netz zappelte eine leckere Mücke, aber für die hatte Spinderella jetzt keine Zeit. Morgen würde sie sich eine andere fangen, oder zwei oder drei. Es gab hier ja sooooo viele. Und schon schlief sie und lächelte dabei. Schließlich war sie die glücklichste – nein, das ist gelogen, die allerglücklichste Spinne die ich kenne.

 

     Ute Keil – (unveröffentlicht - Verlage lehnten ab, weil sie meinten, dass kein Kind ein Buch über so ein ekliges (!!!!) Tier wie eine Spinne lesen möchte !!!)