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 Zaubermusik

All das, wovon ich jetzt erzähle, geschah in einer kleinen grauen Stadt, gar nicht weit entfernt von euch. Die Leute, die in dieser Stadt wohnten, trugen stets triste, dunkle Kleidung. So lange sie sich erinnern konnten, schlurften sie mit miesepetrigen Gesichtern durch die Straßen, rempelten sich unfreundlich an, wenn sie morgens in den Bus drängelten, oder beschimpften sich gegenseitig wegen irgendwelcher Kleinigkeiten. Die Kinder weinten viel, denn wenn die Großen unzufrieden sind, sind sie sehr ungeduldig. Sogar das Wetter hatte sich schon längst der schlechten Stimmung angepasst. Niemand konnte sagen, was zuerst da war, das miese Wetter oder die trübe Stimmung.
Zu allem Überdruss regnete es viel  und stürmte, der Himmel war grau und verhangen, die Wege nass und matschig. Die Sonne ließ sich kaum blicken. Und wenn, dann nur kurz, um sich gleich wieder hinter einer gefräßigen dunklen Wolke zurück zu ziehen. So ging es seit Wochen.

Die ersten Menschen hier fragten sich bereits, was eigentlich Schönes am Leben sei, und das ist wirklich schlimm!

An so einem trüben Tage, es mag der 75. oder 80. gewesen sein, klebte eines morgens ein großes Plakat an der Anschlagtafel auf dem Marktplatz. Es war gar nicht zu übersehen, denn es war hell und ungewöhnlich bunt und stach aus der langweiligen Reklame für Lebensversicherungen oder Regenschirme hervor. Niemand konnte daran vorbeigehen, ohne es zu lesen. Mit großen fröhlichen Buchstaben kündigte es ein besonderes Ereignis an: Ein Zauberorchester kommt in diese Stadt.

Natürlich glaubten die Leute nicht an Zauber, fühlten sich veralbert und nahmen sich vor, gar nicht hinzugehen.

Doch das Plakat schien wirklich einen Zauber auf die Menschen auszuüben, denn als der Zeitpunkt gekommen war, fanden sich viele auf der großen Wiese im Stadtpark ein. Ja, fast alle kamen: die ersten leise und verstohlen, so als schämten sie sich für ihr Kommen. Sie suchten sich schnell einen Platz unter den Bäumen, wo sie für sich waren und nicht gleich gesehen werden konnten. Dann wurden es mehr und mehr, so dass irgendwann die versteckten Plätze alle belegt waren, und die nächsten sich mitten auf die Wiese stellen mussten. Die letzten kamen sogar gelaufen, um den Anfang des Konzerts  ja nicht zu verpassen.

Seltsamerweise aber war nichts für ein Konzert vorbereitet. Es gab keine Bühne, keine Notenständer und keine Instrumente, und auch von den Musikern fehlte kurz vor dem Beginn noch jede Spur.

Wie sie so wartend auf der Wiese herumstanden, begannen die Leute nach alten Bekannten Ausschau zu halten, die sie in der letzten Zeit gar nicht mehr gesehen hatten, und sie fingen an, miteinander zu reden. Das klang etwa so: »Ach, Sie sind auch hier?«
»Na ja, mal abwarten, was uns erwartet.«
»lst doch sowieso alles Hokuspokus, oder?«
»Wie geht es denn so, und überhaupt? Lange nicht mehr gesehen, wie?«
und so weiter und so weiter.

Erst redeten sie sehr zaghaft und unbeholfen miteinander, bald wurde das Gespräch etwas munterer und neugieriger, und schließlich lag über der Stadtparkwiese ein lautes Raunen und Reden, wie es hier lange nicht mehr gehört worden ist.

»DA SIND SIE!«  War jetzt eine laute Stimme zu vernehmen, und die Menschen waren auf einen Schlag still.
Das Orchester war da. Keiner hatte die Musiker kommen sehen, sie standen wie dort hingezaubert mitten auf der Stadtparkwiese.
Fremdartig sahen die Musiker aus, und die Leute drängelten näher und bestaunten sie stumm. In die Stille hinein begann der Geiger zu spielen.

Er verneigte sich tief, setzte die Geige an, und dann erklang seine Melodie. Die war so betörend schön und traurig, dass den Menschen die Tränen über die Wangen liefen. Sie weinten alle und bemerkten gar nicht, dass auch der Himmel anfing zu weinen. Dicke Tränen regneten aus der grauen Wolkendecke herab, und der Tränenstrom wollte nicht enden. Die schweren Wolken wurden dabei immer leichter und heller, je länger der Geiger spielte.
Kaum war der letzte Geigenton verklungen, setzte der Klavierspieler ein. Seine Finger wanderten so leicht und schnell über die Tasten, als würden sie darüber hinwegfliegen. Diese Melodie klang so fröhlich und beschwingt, dass Tränen und Regentropfen sofort versiegten. Die Leute zogen ihre Taschentücher hervor und wischten sich die letzten Tränen von den Wangen. Es war eine wunderbare Melodie. Sogar die Sonne ließ sich von ihr hinter den Wolken hervorlocken. Ihre Strahlen trockneten alles, was Tränen und Regen durchnässt hatten. Der Pianist spielte so lange, bis die Sonne hoch am Himmel stand und kaum noch eine Wolke zu sehen war.
Dann kam der Trompeter. Der hatte Backen so dick wie zwei Luftballons und blies so kräftig in seine goldene Trompete, dass auch die letzten Wolken, die sich hartnäckig am Himmel festklammerten, hinterm Horizont verschwanden.

Die Leute fanden kaum Zeit, sich über das zu wundern, was um sie herum geschah, denn schon drang ein neuer Klang an ihre Ohren: die Triangel. Lieblicher und lockender hätte kein Weihnachtsglöckchen zur Bescherung rufen können.
Es dauerte nicht einmal eine Minute, da begannen die ersten Blumen vorsichtig ihre Kelche zu öffnen. Die sonst so schüchternen Gänseblümchen waren die ersten, worauf auch der kräftige Löwenzahn sich beeilte, seine gelben Blüten zu entfalten. Nun ließen auch Fingerhütchen, Primeln und Kleeblüten nicht länger auf sich warten, und dann stand auf einmal die ganze Wiese in bunter Blütenpracht.
Die Menschen lachten und bemühten sich, nicht auf die Blumen zu treten. Die Kinder sprangen umher und pflückten bunte Blumensträuße. Ein kleiner Junge schenkte seinen sogar einer alten Frau, die sich nicht mehr selbst bücken konnte.
Ein süßlicher Duft lag über der Stadtparkwiese. Irgendjemand sagte laut, dass es so eigentlich immer im Sommer gerochen habe, und jetzt erinnerten sich auch andere daran.

Doch niemand wusste genau, ob der Duft von den Blumen ausging oder von dem seltsamen Flötenspieler kam, der verträumt vor sich hin spielte und seinen Körper dabei im Takt langsam hin und her wiegte. Es war, als ströme mit jedem Ton ein neuer, aufregender Duft aus der Flöte. Es roch nach Veilchen und Rosen, nach frisch gemähtem Gras, nach Sommerwind und ... einfach wie ein herrlicher Sommertag.
Nicht nur die Menschen atmeten den Duft ein, auch die Insekten schienen ihn wahrzunehmen. Sie kamen aus ihren Erdlöchern und Blätterverstecken herausgekrochen, in die sie sich lange zurückgezogen hatten.  Das tiefe Gebrumm der Bassgeige ermunterte sie, ihre Flügel zu putzen und in den blauen Himmel aufzusteigen, so hoch es ging. Bald war die Luft erfüllt von einem Summen und Brummen, dass mancher neugierig zum Himmel aufsah, weil er spürte, dass nun auch die Vögel wieder auftauchten müssten.

Und sie kamen. Sie kamen mit den Klängen der Harfe, die sich zur Melodie der anderen Instrumente gesellte.
Es tschilpte und zwitscherte aus allen Bäumen und Sträuchern. Die Spatzen kamen natürlich am zahlreichsten, aber auch Meisen, Drosseln, Rotkehlchen und Schwalben sah man nach den umherschwirrenden Insekten schnappen, Würmer aus dem Boden ziehen oder Gras Saat picken. Ja, stellt euch vor, einer glaubte sogar, in der Ferne die Nachtigall gehört zu haben. Da aber niemand sich mehr an den Ruf der Nachtigall erinnern konnte, glaubte ihm keiner.

Die Menschen wurden zusehends fröhlicher. Das einzige Unfreundliche an ihnen war noch die Kleidung. Alles um sie herum war bunt. Sie erzählten Witze und sangen zur Melodie des Orchesters mit. Und je ausgelassener sie wurden, umso weniger gefielen ihnen die hässlichen dunklen Sachen, in denen sie gekommen waren.
Kaum hatte einer das laut ausgesprochen, verstummte das ganze Orchester und der Trommler begann zu trommeln.

Vor ihm waren unzählige kleine und große Trommeln in den allen erdenklichen Farbtönen aufgebaut. Wie ein Wirbelwind schlug er nun auf diese Trommeln ein. Es war, als fege ein richtiger Wirbelsturm über sie hinweg. Er bewegte seine Arme so schnell, dass es aussah, als hätte er nicht nur zwei, sondern ein ganzes Gewirr von Armen.

Mit jedem Trommelschlag löste sich aus einem Kleidungsstück die dunkle Farbe und stieg als trübe, dunkle Blase in die Höhe. Mäntel und Anzüge bildeten die dicksten Blasen, die kleinsten stammten von Mützen und Socken. Langsam und majestätisch schwebten sie hoch in den Himmel, so als hätte jemand ein Meer von hässlich dunklen Luftballons losgelassen. Waren sie hoch genug gestiegen, zerplatzen sie oder lösten sich einfach auf.

Unten aber, auf der Wiese, sah man keine dunklen Farben mehr. Die Leute trugen helle, leuchtende Röcke und Hosen, Blusen und Schleifen. Und nachdem sie es eine Weile geübt hatten, konnte einer dem anderen sogar sagen, wie hübsch er ihn so fände.

Bei aller Fröhlichkeit beachtete niemand diejenigen, die sich dem ganzen Zauber erfolgreich entzogen hatten. Es waren nicht viele. Sie standen grau und griesgrämig wie eh und je am Rande der Wiese, beschwerten sich über das laute Treiben der anderen und schlugen ärgerlich nach den munter umherschwirrenden Insekten.

Nur den Musikern waren diese Griesgrame nicht entgangen. Das war ein Fall für den Trompeter. Er legte seine Trompete beiseite und griff nach den Becken. Dreimal schlug er die mächtigen Becken mit aller Kraft gegeneinander. Man könnte glauben, es würde ein gewaltiges Donnergrollen über den Stadtpark hinwegfegen. Entsetzt sprangen die Griesgrame auf und liefen so schnell sie konnten davon. Alle anderen nahmen den Lärm seltsamerweise gar nicht wahr. Sie tanzten miteinander und sangen so laut und vergnügt, dass sie nicht einmal bemerkten, wie die Musiker genauso still verschwanden, wie sie gekommen waren. Sie hatten ihre Aufgabe erfüllt. Erst sehr viel später begannen die ersten, sie zu vermissen. 

Obgleich die Menschen den ganzen Stadtpark absuchten und jeden fragten, den sie unterwegs trafen, fand sich keiner, der etwas vom Verschwinden des Orchesters bemerkt hätte. Seltsamerweise war auch das Plakat an der Anschlagtafel verschwunden, so als hätte es niemals dort geklebt.

Und so kam es, dass sich mit der Zeit immer mehr Leute fragten, ob alles nicht nur Einbildung gewesen sei, denn sie glaubten ja nicht an Zauber. Die gute Laune überall, die war jedoch keine Einbildung. Jeder konnte sie sehen und spüren. Und die - so schworen sich alle - sollte nun für immer bleiben, egal ob mit oder ohne Zaubermusik.

             Ute Keil -  aus: Hoch lebe die Phantasie (Verlag C. Riedel)